"Schon peinlich als Spieler": Fans pfeffern dem FC Schalke 04 ihren Zorn um die Ohren

Die Fans des FC Schalke 04 wenden sich von der eigenen Mannschaft ab.
(Foto: dpa)
Am letzten Spieltag der Zweitliga-Saison kommt es auf Schalke zu einer erstaunlichen Eskalation. Bei der Niederlage gegen die vom Dorfklub zum Topteam mutierte SV Elversberg verhöhnen die Anhänger der Königsblauen die eigenen Spieler.
Wer auf Schalke fährt, darf nicht mit dem Auto kommen. Schalke ist Gefühl, Schalke ist tiefster Pott, Schalke ist Straßenbahn 302 vom Hauptbahnhof zur Arena. Immer Richtung Norden. Musiktheater, Schalker Meile, Ernst-Kuzorra-Platz, irgendwann das Stadion. Über Bahnlinien, über den Kanal. Vorbei an der Glückaufkampfbahn, an blauweißen Kneipen und Bauschildern, die die "Beseitigung von Problemimmobilien" verkünden.
Genau da in der 302 sitzen Stunden vor dem letzten Spiel der vollkommen verhunzten Spielzeit 2024/2025 gegen die SV Elversberg drei Jungs, maximal 20, zusammen. Sie schauen aus dem Fenster und reden, wie man redet, wenn man redet, um nicht zu schweigen. Dann würde der Kopp schmerzen. Das Spiel der Schalker gegen Elversberg wird an diesem 34. Spieltag der Saison 2024/2025 grandios verloren gehen. Die Gäste werden 2:1(1:0) gewinnen und sich für die Relegation zur ersten Bundesliga qualifizieren. Über zwei Spiele werden sie mit dem 1. FC Heidenheim um die Zugehörigkeit zur Bundesliga kämpfen werden.
Karamans Stimme bricht beinaheWenn die Protagonisten der Elversberger nach dem Spiel in den Tiefen der Schalker Arena Auskunft über ihren Erfolg und die anstehenden größten Spiele der Vereinsgeschichte sprechen werden, schütteln sie Hände von genau zwei Journalisten. Ein paar Meter weiter hat sich ein Pulk um den Kapitän der Königsblauen, Kenan Karaman, gebildet. Der hat gut zu tun. "Wenn die Fans sich gegen die Mannschaft wenden im eigenen Stadion, dann tut das weh. Das kann mir jeder glauben", wird der 31-Jährige mit roten Augen sagen: "Das war hart heute. Da müssen wir durch. Es muss uns stärker machen." Dabei wird Karamans Stimme stolpern. Nicht einmal er wird glauben, was er da gesagt hat.
Die Fans werden da lauthals "Wir wollen nach Hause gehen" gesungen und die Welle mehrfach zu "Oh, wie ist das schön"-Gesängen durch das Rund gejagt haben. Dazwischen werden sie den "Deutscher Meister" Schalke 04 genauso besungen, wie auch ihre Vormachtstellung im Pott zelebriert haben. Es werden Halluzinationen der Hilflosigkeit sein. Weil alles, aber auch wirklich alles hin ist, außer ihre Liebe zum FC Schalke 04. Der Frust wird zur Häme werden, kübelweise gegossen auf eine Mannschaft, die vor dem Spiel bei den obligatorischen Verabschiedungen mit ersten Pfiffen belegt werden wird.
"Wir spielen nicht Pokal, wenn wir 15. werden"All das aber wissen die drei Jungs am Rande der Zurechnungsfähigkeit in der 302 noch nicht. Sie können es noch nicht wissen. Denn es liegt in ihrer Zukunft. Auch, dass vor Karamans Aussagen noch die Einwechslung von Pierre-Michel Lasogga liegt. Der ehemalige Hamburger wird nach fast sechs Jahren sein erstes Spiel im deutschen Profi-Fußball absolvieren. Er wird in erster Linie eingewechselt werden, um das Stadion zu befrieden.
Weil das, was passieren wird, sogar mit dem größten Kater der Geschichte kaum auszumalen ist, schauen sie eben auf das, was schon war. Passiert ja auch so immer was, was man bequatschen kann. Sie kommentieren die Welt und wie sie ihnen durch ihre müden Hirne rauscht. Ist wieder spät geworden gestern in Castrop-Rauxel. Substanzen aller Art, Tags an die Wände hauen, später noch was futtern. Aber heute ist eben Schalke. Da ist egal, wie spät es gestern war.
Nicht egal ist, was gestern erzählt wurde. "Digga, Mattis hat erzählt, dass wir nicht im Pokal spielen, wenn wir 15. werden", sagt einer von ihnen, während die 302 die Kurt-Schumacher-Allee hochjuckelt. "Mattis ist dumm! Natürlich spielen wir Pokal, aber vielleicht gegen Dortmund." Fakten first, auch in der 302 mit Restpegel. Der Kampf gegen den 15. Tabellenplatz ist die letzte Entscheidung für die Schalker in dieser Saison. Werden sie im kommenden Jahr im DFB-Pokal dem Amateurlager zugerechnet oder schaffen sie es ins Proficamp.
Die Bruchstelle ist der 14. Tabellenplatz. Ab da ist Profitopf im Pokal, da drunter ist Amateurtopf. Es wird am Ende gut gehen. Weil der Absteiger SSV Ulm gegen Preußen Münster spät ein Tor erzielt. "Ich sehe den Verein gar nicht da unten. Alles ab Platz zehn abwärts ist für mich keine gute Saison. Wir haben Glück gehabt, wie es aussieht. Für die Außenwirkung wäre das nicht gut gewesen", wird Karaman sagen.
Der Tag, der alle Grenzen sprengteWer auf Schalke fährt, der erfährt die Wucht des Fußballs. Der merkt, was das in Menschen auslösen kann. Der kann nachempfinden, wie tief der Fußball sich mit all seiner Kraft in die Seele der Menschen brennt. Wie er sie verzweifeln und später doch über sich und ihre Verzweiflung lachen lässt. Im Norden Gelsenkirchens kennt der Fußball keine Liga mehr und auch keine Erfolge. Er ist einfach da. Das reicht den Menschen.
Zumindest bis sie die Schnauze voll haben. Dann zeigen sie es ihrem Klub. Das passiert häufig auf Schalke. Dann zischt es aus allen Ritzen, dann droht die Explosion und wenn es besonders schlimm wird, dann holen die Ultras sich die Spieler ran und erklären ihnen die Welt, dann pfeift das Stadion oder es schweigt. Doch in der Form, in der sich der Ärger im Spiel gegen Elversberg in die Arena schlich, war es bislang noch unbekannt. Es war eine Abrechnung sondergleichen.
"AR und Vorstand: Erneuter Abstiegskampf in Liga 2 - Das Ergebnis Euer Arbeit", verkündeten die Anhänger schon vor dem Spiel auf einem Banner, das über der Nordkurve hängt. "Historisch schlechteste Platzierung - Schöne Sommerpause Ihr Versager", hieß es unten in der Nordkurve gegen Ende der Partie. Dazwischen lag dieser verdammt schlimme Sonntag für den FC Schalke 04. Einer, der immer weiter eskalierte und die Grenzen der Wahrnehmung sprengte.
Immerhin purzelte niemand aus dem OberrangSo richtig los ging es als Verteidiger Taylan Bulut in der 20. Minute aus der Distanz einen Schuss in Richtung Elversberger Strafraum absetzen wollte. Der Ball erreicht kaum den Strafraum und so flog er den Königsblauen stattdessen postwendend um die Ohren. Die Elv aus dem Saarland kombinierte sich durchs Mittefeld, Fisnik Asllani legte auf Lukas Petkov, der schoss aus über 20 Metern, kaum gefährlich, aber im Tor der Schalker sah Justin Heekeren mal wieder nicht gut aus. 1:0 für die Gäste. Der Zerfall begann.
Nach etwas über einer halben Stunde schlugen die Schalker die Bälle nur noch lang nach vorne, Bulut haute ihn manchmal ins Seitenaus, Adrian Gantenbein übergab ihn hin und wieder direkt an die Gegner. Die Nordkurve begann mit ihren Halluzinationen. Die Fans hatten sich vom Spielfeld abgewendet, sangen von der Nummer eins im Pott. Sie sangen von sich, wie sie da mit dem Rücken zum Feld standen und nicht mehr hinschauen wollten. Irgendwann in diesen Minuten verpasste sie, wie Ron Schallenberg eine Situation klärte, indem er den Ball Torhüter Heekeren aus kürzester Distanz ins Gesicht jagte. Es wirkte nicht einmal wie Absicht, sondern wie eine sich aus der eskalierenden Situation ergebende Notwendigkeit.
Sah aber ohnehin kaum einer. Auch bei den wenigen Gelegenheiten für Schalke drehten sich die Fans nicht mehr um, sie steigerten sich in "Scheiß BVB"-Wechselgesänge und hüpften mit dem Rücken zum Spielfeld weiter trotzig um die Wette, so dass einem ganz angst und bange um die Fans in den ersten Reihen des Oberrangs der Arena wurde. Die Sorge blieb unbegründet.
Lasoggas schnaubendes ComebackWeil die Fans nach der Pause wieder mutig aufs Spiel blickten und dabei von Meisterschaften und Pokalsiegen sangen, sahen sie in der 47. Minute, wie einer von ihnen vor der Nordkurve Maß nahm. Es war eines dieser Tore, bei denen sich die Mitspieler schon jubelnd abwenden bevor der Torschütze den Ball erwischte. Ein Schalker hatte getroffen. Es gab nur ein Problem: Maurice Neubauer spielt schon lange nicht mehr für Schalke, sondern momentan noch für Elversberg. 2:0 also.
Der Ex-Spieler aus der Schalker Knappenschmiede sagte später: "Papa hat mir das früher eingeimpft, dass ich Fan von Schalke werde" und ergänzte: "Es ist schade, dass der Verein ein bisschen schlechter dasteht. Die Fans sind trotzdem etwas Besonderes hier. Auf dem Feld nimmt man das alles nicht ganz so krass wieder. Man merkt halt ne gewisse Lautstärke. Schalke 04 wird wieder aufstehen."
Erst einmal ging es immer weiter auf den Boden. Die Zuschauer schmetterten die Klassiker. Sie sangen "Oh, wie ist das schön" und das gesamte Stadion machte in brachialer Lautstärke mit. Währenddessen jagte die Welle immer wieder durch die Arena. Einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal. Interimstrainer Jakob Fimpel wollte nicht mehr. Diese schlimmste Phase der Demütigung konnte er mit einem Kniff stoppen. Er beorderte Lasogga an die Seitenlinie. Der hatte bei Fimpel zuvor schon in der U23 gespielt und sollte jetzt noch ein wenig für Ablenkung sorgen. Die Einwechslung des bald schnaubenden Stürmers in der 70. Minute verlieh dem Spiel endgültig das Flair eines psychedelischen Traums. Es war alles nur noch surreal, hatte schon längst nichts mehr mit einem Fußball-Spiel zu tun.
Youri Mulder ist einfach froh: Absturz vermiedenDer 33-Jährige räumet in einer seiner ersten Aktionen den SVE-Verteidiger Lukas Pinckert ab, sprang hoch und feuerte - während seiner Gegner noch auf dem Boden lag - das Publikum an. Das war begeistert. Die Schalker pöhlten jeden Ball in Richtung Lasogga. Der wuchtete seine Körper in alles, was sich bewegte und das Publikum johlte und vergaß. Für ein paar Sekunden, dann drohte der Sturz auf Rang 15 - weil in Ulm Münster in Führung ging und Fürth gegen den HSV führte - und auf der Nordkurve erschien das Spruchband von der historisch schlechten Saison. Immerhin traf der eingewechselte Yassin Ben Balla, Ulm glich aus und beruhigte die Fans noch mehr. Als diese elendige Spielzeit endlich vorbei war, vertrieben die Anhänger die Mannschaft mit einem lauten Pfeifkonzert in die Katakomben.
"Wir wollen hier raus aus dieser Liga", sagte Sportdirektor Youri Mulder dort. "Aber oben raus. Denn das war auch noch die Gefahr. Das passiert auch großen Vereinen, dass die unten durchrutschen. Das ist zum Glück nicht passiert." Das, was zwischendurch auf den Tribünen passiert war, das sei eine Botschaft. "Wenn man nicht versteht, wenn man von 60.000 ausgepfiffen wird, wenn man vom Platz runtergeht. Wenn man das nicht versteht, weiß nicht, ne", erklärte der Eurofighter und verglich es mit all den anderen Ereignissen dieser Saison: "So wild, wie es heute war, war es noch nicht."
"Der kann nur rennen, um den Arena-Ring"Wer auf Schalke fährt, darf nicht mit dem Auto kommen. Schalke ist Gefühl, Schalke ist tiefster Pott, Schalke ist Straßenbahn 302 von der Arena zum Hauptbahnhof. Da sitzen nach dem 1:2 am letzten Spieltag die Fans und sprechen über das, was war. Auf Schalke und anderswo. Einer zeigt ein Bild von Mark Uth. Der ehemalige Schalker stemmt nach der gewonnenen Meisterschaft der Kölner die Trophäe in die Höhe. Der, der das Bild zeigt, kriegt sich nicht mehr ein. "Der kann gar nichts", schimpft er. "War halt sein letztes Spiel und er hat auch noch ein Tor gemacht", ordnet ein anderer ein. "Der kann gar nichts", dröhnt es zurück. "Der kann nur rennen, und zwar um den Arena-Ring." Genau das musste der ehemalige Nationalspieler an dem Tag machen, an dem der FC Schalke 04 erstmals aus der Bundesliga abstieg.
Doch nicht einmal Wut hatten die Fans für die aktuelle Generation von Spielern übrig. An diesem Sonntag im Mai sorgten sie mit ihrem gnadenlosen Spott dafür, dass Kapitän Karaman den Tränen nahe war. "Das ist pure Enttäuschung. Das geht unter die Haut. Das ist schon peinlich als Spieler, wenn die eigenen Fans sich gegen die Mannschaft abwenden. Diesen Schmerz werden wir wahrscheinlich noch mitnehmen in die nächsten Wochen." Wenn die vorbei sind, ist vollkommen unklar, wer nach dieser historisch schlechten Saison noch da sein wird. Eins aber ist schon jetzt klar: Die Fans werden wieder in der 302 sitzen. Egal, wie spät es am Vorabend auch geworden ist. Denn der schönste Kater von allen ist immer noch Schalke.
Quelle: ntv.de
n-tv.de